Werke & Presse

Link zur Lesung im Aargauer Literaturhaus:

https://www.aargauer-literaturhaus.ch/shop/haller-aufzeichnung-2021


Vorschautext:

Wie man seine Bestimmung findet: der neue große Roman von Christian Haller

Der Damm ist gebrochen, der Fluss des Lebens trägt Christian Haller näher an seine Bestimmung heran. Aus dem jungen Mann, der den Weg suchte, "den es nicht gab und den er dennoch gehen wollte", ist ein Schriftsteller geworden. Durch Widerstände, Schicksals- und Rückschläge eröffnen sich ihm zunächst neue Lebens- und Arbeitsbereiche. Er aber muss kämpfen gegen finanzielle Nöte, gegen Ablehnung und für die Anerkennung seiner Arbeit. Doch schreibend gelangt er an sein Ziel: In der Erkundung seiner Herkunft, jener Einschläge des 20. Jahrhunderts, die die Wege seiner Familie bestimmten, tritt allmählich das erzählende Ich hervor. Und mit ihm die Frage, wie der Untergrund des Lebens tatsächlich beschaffen ist.

"Flussabwärts gegen den Strom", der abschliessende Band der autobiographischen Trilogie, erscheint Ende August 2020.


Rezensionen:

Neue Zürcher Zeitung, 25. November, 2020

Christian Haller beendet seine autobiografische Trilogie:

Über die allmähliche Entdeckung des eigenen Ich

Der Aargauer Schriftsteller kam über Umwege erst auf den Gedanken, über das eigene Leben zu schreiben. Er hatte sich zunächst seinen Vorfahren zugewandt.

Von Rainer Moritz

 

pastedGraphic.png

Der Schriftsteller Christian Haller schrieb eine dreibändige Autobiografie.(Bild:Marita Höckendorff)

 

Über sich selbst schreiben? Das hat seit einiger Zeit Hochkonjunktur, und vermutlich war es der Norweger Karl Ove Knausgård mit seinem sechsteiligen autobiografischen Welterfolg «Mein Kampf», der viele seiner Kolleginnen und Kollegen dazu anspornte, es ihm nachzutun. Begleitet wird diese Hausse der Autobiografie von einem generellen, weitverbreiteten Unbehagen an der Fiktion, und auf den ersten Blick scheint es, als sei auch der Aargauer Christian Haller ein Teil dieser Strömung.

Sein neues, mit der trügerischen Gattungsbezeichnung «Roman» versehenes Buch «Flussabwärts gegen den Strom» schliesst ein dreibändiges Werk ab, das 2015 mit «Die verborgenen Ufer» einsetzte. Es erzählt davon, wie der 1943 geborene Haller heranwuchs, im Berufsleben als Bereichsleiter im Rüschliker Gottlieb-Duttweiler-Institut Fuss fasste und in mehrfachen Reprisen aufgegriffene Schicksalsschläge zu verkraften hatte. Mit einem fatalen, bereits in seinem Roman «Im Park» 2008 fiktional verarbeiteten Ereignis dieser Art beginnt der Abschlussband, mit der Hirnblutung, die seine Lebensgefährtin, die Theaterregisseurin Pippa, 1985 ereilt.

Vor dem finanziellen Ruin

Von einem Tag auf den anderen verändert sich deren Leben völlig. Sie kämpft mit dem Tod, trägt eine halbseitige Lähmung davon und kann ihren Beruf nicht mehr ausüben. Auch das Zusammenleben mit dem Ich-Erzähler ist nicht mehr das gleiche; zu den psychischen Herausforderungen gesellen sich finanzielle, denn eine mit dem Unglück einhergehende Schreibkrise scheint Hallers Versuch, sich als «freier» Autor zu behaupten, dauerhaft zu torpedieren.

Christian Hallers Buch ist ein Lehrstück auf vielen Ebenen. Schonungslos erzählt es von der Beharrlichkeit eines Schriftstellers, dessen Texte – obwohl sie von einer renommierten Agentur vertreten werden – partout kein Verlag drucken will. Seine Aktivitäten verlagern sich auf das Theater (am selbstverwalteten Theater Claque in Baden zum Beispiel), auf Tätigkeiten, die das tägliche Auskommen kaum absichern. Und selbst als sich diese Situation ändert und sich der Luchterhand-Verlag der Romane Hallers annimmt, bleibt der Erfolg aus. Das Fazit fällt eindeutig aus: «Was immer ich bisher publiziert hatte, blieb folgenlos oder provozierte Ablehnung.»

«Flussabwärts gegen den Strom» ist das Zeugnis eines beeindruckenden künstlerischen Überlebenswillens und belegt, wie komplex der Zusammenhang von Autobiografie und Fiktion ist. Schritt für Schritt nähert sich Haller der eigenen Familiengeschichte an und findet schliesslich den «Schlüssel» für seine zwischen 2001 und 2006 erschienene «Trilogie des Erinnerns», die ihm erstmals breitere Anerkennung einbringt.

An der Brüchigkeit dessen, was sich der Erzähler und Pippa aufbauen, ändert das wenig. Die Furcht, von heute auf morgen alles zu verlieren, bleibt präsent. Wie sich durch Pippas Erkrankung urplötzlich alles ändert, so beendet eine neue Gefährtin, die ihm mit ihrem Sohn sogar zeitweilig ein anfangs nie gewolltes Familienleben beschert, abrupt und grausam ihre Beziehung.

Zum symbolischen Bild dieser Fragilität wird eine Szene, die alle drei Bände der Autobiografie überlagert: Ein Rhein-Hochwasser, das Hallers Haus in Laufenburg bedroht und quälende juristische Auseinandersetzungen mit der Versicherung nach sich zieht, stellt nicht nur das Fundament des Hauses infrage: «Für einen Moment glaubte ich, über dem Abgrund zu schweben, in den die Terrassenmauer gestürzt war.»

Die Hinwendung zum Ich

Von dieser Urszene abgesehen, verzichtet Haller weitgehend auf metaphorische Überhöhungen. Er schlägt einen schnörkellosen Ton an, dessen Schlichtheit mitunter hölzern wirkt und doch zu dieser autobiografischen Recherche mustergültig passt. Diese vermeintliche Banalität ist das Resultat eines langwierigen Schreibprozesses, in dem sich erst nach und nach das Zutrauen in eine «einfache Sprache» einstellt.

Wie endet Christian Hallers autobiografische Reise? In gewisser Weise mit einem Paradox, denn erst die intensive Beschäftigung mit dem Leben seiner Vorfahren macht den Weg frei, sich der eigenen Geschichte zuzuwenden: «Ich hatte über Mama, Grossvater, meinen Vater, über Pippa und ihre Krankheit geschrieben, doch nicht über mich selbst.» Eine schlagende Erkenntnis, die Christian Haller dazu bringt, sich dem eigenen Ich unverhohlen zuzuwenden, es in den «Spot» seiner Aufmerksamkeit zu stellen. Das Ergebnis ist die Trilogie, die mit «Flussabwärts gegen den Strom» nun an ihr Ende gekommen ist.

Christian Haller: Flussabwärts gegen den Strom. Roman. Luchterhand-Verlag, München 2020. 222 S., Fr. 33.90.

 

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. Oktober 2020

Das Ich ist eine Einbildung

Christian Haller schliesst mit „Flussabwärts gegen den Strom“ seine autobiographische Trilogie ab

Von Kurt Drawert

Zu den grössten Wagnissen, die ein Autor in seiner Zeit eingehen kann, gehört das Schreiben von autobiographischer Prosa. Das enorme Risiko der Missverständnisse basiert hier auf zwei grundlegenden Irrtümern in der Rezeption: erstens, die Person der Erzählung wird mit dem Autor als identisch erlebt, und zweitens, die Welt der Erzählung ist, da sie eine reale topologisch Zuweisung von Orten und Namen erhält, der Überprüfung mit jener Realität ausgesetzt, die im literarischen Werk ja gerade nicht abgebildet, sondern im Strom des Erinnerns neu hervorgebracht wurde. Auf dieser Oberfläche der Indifferenz lauert nun der Skandal, der sich aus den sachlichen Abweichungen und subjektiven Einfärbung des erinnerten Stoffes wie von selbst ergibt – und die Chronisten stehen sofort mit der geladenen Flinte im Busch, wenn ein Regentag im Text nicht mit den meteorologischen Kalender übereinstimmt. 

Dabei entgeht Ihnen etwas Entscheidendes, was Literatur von Reportagen oder Sachtexten trennt: die Reproduktion einer starken Empfindungen und nicht die kalten Fakten; denn nicht das Protokoll, sondern die Erinnerung ist der Motor des autobiographischen Schreibens. Das gelebte Leben will in seiner inneren Substanz rekonstruiert und verstanden werden – die Geschichte, die es umgibt, ist Folie und Material.

Christian Haller nun hat diese Missverständnisse in allen für Fazetten erfahren, denn sein grosses literarisches Projekt ist der dauernde Versuch, dem eigenen Ich eine Stimme zu geben, die indessen nie so ganz bei sich selbst bleiben kann. Wenn er seine autobiographische Trilogie, die aus den Bänden „Die verborgenen Ufer“ (2015), „Das unaufhaltsame Fliessen“ (2017) und „Flussabwärts gegen den Strom“ (2020) besteht, jetzt abgeschlossen hat, dann liest es sich schon fast paradox, dass dieses „Ich bin“ erst am Ende des Buches überhaupt gesagt wird – und das noch im Zitat eines Freundes: „Den Boden, den wir nicht gehabt haben, schaffen wir uns selber. Mit Buchstaben und Worten, die wir zu Geschichten verfugen, geben wir dem Ich einen Grund, machen das Nichts begehbar und steigen an Orte, wo kein Boden mehr nötig ist.“

Kurz zuvor fällt es dem Ich-Erzähler selbst auf, dass er sich dieses „Ich bin“ noch immer schuldig geblieben ist, da es nur in der Referenz zu anderen erscheint; das Ich bleibt ein Schatten seiner selbst – mehr Ahnung als Gewissheit, mehr „ich möchte“ als „ich bin“. Und dann der letzte, geradezu ungeheuerliche Satz: „Davon schreib, sagte ich mir und stieg die Treppe hoch in meine ‚Flussklause‘.“ Ja, aber was haben wir denn drei Bände hindurch gelesen? Warum sagt der Autor am Schluss, wovon alles handelt? Was ist das für eine unerhörte Tautologie?

Wann stürzte die Hausmauer ein?

Doch zum Anfang zurück. Die grosse metaphorische Klammer wird abermals eröffnet wie schon in Bannd eins, wo es hiess: „19. Juni, vier Uhr nachts, ein dumpfes Grollen. Ich schrecke hoch. Die Hausmauern zittern. Ein Erdbeben! Brechende, reissende Mauern, dann ein dunkel plumpsender Ton, gefolgt von einem hellen, spritzenden Rauschen, das in einem Regen fallender Tropfen erlischt. Stille. Sie schafft Gewissheit: Das Hochwasser hat einen Teil unseres Hauses weggerissen.“ Jetzt heisst es: „Vor drei Jahren, am 13. Juni, stürzte die sieben Meter hohe Mauer, die unsere Terrasse zum Rhein hin begrenzt hat, in den Strom. Ein Grollen und Bersten erschütterte das Fundament des Hauses, riss eine klaffende Wunde aus Erde und Fels unter die beiden Veranden. Nach Befestigung des Untergrundes und der Errichtung eines Balkons blieb die Frage zu klären, ob die Schadenssumme nicht durch die Versicherung wenigstens teilweise bezahlt werden müsste.“ Wären wir Versicherungsbeamte, die dafür bezahlt werden, dass sie nicht zahlen, hätten wir ein leichtes Spiel, den Antragsteller abzuweisen, der sich ja nicht einmal im Datum des Ereignisses – 13. Juni hier, 19. Juni dort – sicher sein kann.

Wir haben es also mit einem unzuverlässigen Erzähler zu tun, und genau dieser Fokus der Labilität generiert die Metapher: sich das Haus in Erweiterung eines realen Objektes als Paradigma des Lebens zu denken und den brüchigen Unterbau als dessen permanente Gefährdung. Nichts ist sicher, nichts ist verlässlich; die Dinge der Existenz sind es nicht, das Erzählen darüber ist es ebenso wenig. Wir sind gefangen in einer sokratischen Aporetik, von der alles handelt. Ebenso die Parallelmetapher, die immer wieder im Zwang zur Wiederholung aufgerufen wird: Pippa, die Lebensgefährtin des Erzählers, erleidet einen Schlaganfall mit den Folgen einer dauernden Behinderung. Immer wieder kreist die Erzählung um dieses Ereignis, wie in einer Sinfonie, die ihr Grundmotiv repetiert. „Zwischen zwei und drei Uhr früh erlitt Pippa eine Hirnblutung, lag zur Hälfte aus dem Bett gerutscht am Boden, stöhnte, schlug um sich, und grell durchzuckte mich ein Gedankenblitz: Es ist passiert!“

Überhaupt ist die Prosa von Haller nicht zu sehr handlungsorientiert, sondern musikalisch, nach Gesetzen der Rhythmik und Prosodie aufgebaut. So wird, was gelegentlich wie Redundanz erscheint, zu einem Stilmittel dafür, dass Unverarbeitete offenzulegen, das, was nicht geschlossen und nicht beendet werden kann.

Die Tradition des Künstlerromans

Aber neben dieser tieferen Schicht des Erzählens, die im Titel des ersten Bandes das schöne Bild vom „verborgenen Ufer“ dafür fand, wird ebenso eine chronologisch strukturierte Geschichte erzählt – und es ist die einer Entwicklung zum Schriftsteller. Alle Bände der Trilogie stehen in der grossen Tradition des Künstlerromans, und was an Erzählstoff aufgerufen wird, dient dieser besonderen Genese. Dabei dominieren die inneren Zweifel und äusseren Rückschläge immens. Es gibt so anrührende Szenen der Niederlage, dass man die Kraft bewundert, die dieser Mann zum Weitermachen immer neu aufbringen musste.

Eine davon schauen wir uns stellvertretend an. Der Ich-Erzähler hat endlich einen Vertrag bei Luchterhand in Aussicht, „und freuen Sie sich, ihr Buch wird der Spitzentitel des Herbstes.“ Dem Autor aber „zog es den Magen zusammen“, als hätte er gerade einen Tiefschlag erlitten, und man wundert sich leise - war er nicht endlich am Ziel? Kurz darauf liest er bei den Solothurner Literaturtagen aus dem Manuskript: „Nach zwei, drei Seiten unterbrach mich ein Zwischenruf, ein Zuhörer war im Publikum aufgestanden, rief in den Saal, er protestiere, das sei keine Literatur, die ich da vortrage, das seien Klischees und banale Sätze.“ Schliesslich steht auch noch ein Mitglied der Programmkommission auf und entschuldigt sich, dass er ihn eingeladen habe.

Kann man sich für einen Autor, der zum ersten Mal ein Podium betritt, etwas Furchtbareres vorstellen? Dass er davon erzählen kann, zeigt wie uneitel er ist und wie es ihm nur um die Sache der Sprache geht. Und so antwortet er auch im Reflex der Angriffe entsprechend, „dass ich zwanzig Jahre gearbeitet habe, um zu einer einfachen Sprache zu finden, dass mir ein Satz wie ‚Er ging die Strasse hinunter‘ lieber sei als Zierereien, die vorgeben, Literatur zu sein, wie ‚er setzte Bein vor Bein, um das Gepflästerte hinter sich zu bringen‘“. Ein so fundamentales Gefühl der Verirrung geht von dieser Schilderung aus, dass man sich diesen Autor im Netz des Literaturbetriebes alles andere als angekommen vorstellen kann.

Aber es ist keine Soziopathie im Spiel, nichts über die Grenzen der Literatur Hinausfallendes, das sie gleichsam beschädigt; es ist diese sehr eigene poetologische Vorstellung vom geraden, unprätentiösen Satz, die mit einer breiteren Literaturvorstellung offenbar nicht zusammenfällt - oder war, wenn wir die lange Phase der Abweisungen in die erzählte Vergangenheit rücken. Diese kühle, nüchterne Geste des Sprechens, die sich jeder selbstreferentielle Sprachlust verweigert, finden wir auch im neuesten Text – und nur selten kommt es zu leicht pathetischen Durchbrüchen wie: „Während des Lektorats schmolz ich ihn (den Text) durch die Anregungen meines Lektors wiederum auf, verflüssigte in erneut, um ihn erneut zu härten“. Man muss – wie bei allen seinen Büchern – die gesamte Komposition lesen, das feine Arrangement der Szenen und Bilder, deren Poesie in den Schnittstellen entsteht und weniger in den Formulierungen selbst.

Im letzten Teil des Romans „Die Schlüssel zur Kammer“ wird eine Leerstelle gefüllt, die sich selbst noch nicht evident war, aber für die Schreibexistenz von grösster Wichtigkeit ist: die fehlende Mutter. Plötzlich wird dem Erzähler bewusst, dass sie kaum auftaucht, und erst am Ende des Buches spricht er sie an. Diese Initiation der Mutter, der leiblichen wie der imaginären, und die Suche nach Sprache und Stil fallen im Text auf einen Punkt, der zum Ich des Erzählers wird.

Was tautologisch erscheint, dass ein sprechendes Ich erst in der Sprache zu sich selbst kommen und „Ich bin“ sagen kann, wird zu einer tiefen psychologischen Spur. Denn dieses Ich (bei sich selbst) muss erst bearbeitet werden: es ist noch nicht, aber es wird. Oder, besser noch, es wurde – in drei bemerkenswerten Bänden.

 

NZZ am Sonntag, Bücherbeilage, 27. 9. 2020
Schweizer Literatur 

Mit dem Band «Flussabwärts gegen den Strom» schliesst Christian Haller seine zweite Trilogie auf überzeugende Weise ab

Bei Einbruch der Wirklichkeit

Von Manfred Papst

Der Rhein führt Hochwasser und unterspült die Häuser der Laufenburger Altstadt. Am 19. Juni 2013 reissen die Fluten einen Teil von Christian Hallers Haus weg. Was auf Fels gebaut schien, erweist sich als porös und vergänglich. Die ganze Existenz gerät ins Wanken; kann da wenigstens noch auf die Erinnerung Verlass sein? Mit dieser Szene begannen schon die ersten zwei Bände von Christian Hallers zweiter, autobiografischer Trilogie; sie ist auch das Leitmotiv des nun vorliegenden Schlussbandes «Flussabwärts gegen den Strom».

Hallers Schreiben war seit je mit biografischen Elementen durchsetzt. In seiner «Trilogie des Erinnerns» (2001–2006) hat er der Welt der Mutter, des Grossvaters und des Vaters ein Denkmal gesetzt. Im Roman «Im Park» beschäftigte er sich mit dem dramatischen Ereignis, das sein Leben geprägt hat wie kein anderes: dem Hirnschlag seiner Lebensgefährtin, der zu ihrer Invalidität führte. Als Haller 2013 den ersten Band seiner zweiten Trilogie, «Die verborgenen Ufer», in Angriff nahm, befand er sich in einer Krise: Sein letzter Roman war zum Teil auf heftige Ablehnung gestossen, seine langjährige Partne- rin hatte ihn verlassen, Angstzustände suchten ihn heim. In dieser Situation rettete er sich – einmal mehr – ins Schreiben.

Die Welt wird lesbar

Bei Durchsicht seiner Bücher fiel ihm auf, dass es in deren Gewebe eine Leerstelle gab: ihn selbst. Die Figur, die all diese Geschichten erzählt hatte, war nie in ihrer Eigenart in Erscheinung getreten. Das holte er nun nach. In «Die verborgenen Ufer» (2015) steigt er hinab in die Keller seiner Kindheit. Mit poetischer Kraft schilderte er das Erwachen der frühkindlichen Wahrnehmung, das allmähliche Lesbar-Werden der Welt. Wir begegnen der gross-bürgerlichen Mutter, die der Zeit im prächtigen Bukarest nachtrauerte, dem Vater, der zwar Fabrikant war, dem übermächtigen Grossvater aber nicht Paroli bieten konnte und seine ohnmächtige Wut darüber an den beiden Söhnen auslässt.

Haller schildert sich als Aussenseiter und Legastheniker, der sich durch die Schule quälte, die Archäologie als Gegenwelt entdeckte, Schauspieler und Lyriker werden wollte und als Hausbursche in einer Zürcher Buchhandlung am Rand der Armut lebte. Der zweite Band, «Das unaufhaltsame Fliessen» (2017), zeigt den Autor als jungen Mann, der mit seinem literarischen Werk nicht vorankommt, den uferlosen Nachlass des Schweizer Autors Adrien Turel aufarbeitet, Dorflehrer wird und dann unvermutet am Gottlieb-Duttweiler Institut Karriere macht. In diesem Buch lässt die Dichte gegenüber dem ersten deutlich nach; gelegentlich mochte man an der Relevanz des Mitgeteilten zweifeln und sich über den weniger Wasser führenden Erzählfluss wundern. Im Rückblick, vom Ende des neuen dritten Bandes her, stellt sich die Sache anders dar. Zwar bleibt der zweite Band eine Durststrecke, doch nun wird seine Funktion im Ganzen sichtbar. Haller erzählt, wie einer in einem langsamen und oft schmerzhaften Prozess, in zähem Ringen und unter schwierigen materiellen Bedingungen zu dem bedeutenden Autor wird, als der er uns heute entgegentritt. Begabt und wach, eigensinnig und beharrlich war er schon immer. Aber erst in den Romanen «Die verschluckte Musik», «Das schwarze Eisen» und «Die besseren Zeiten», welche die «Trilogie des Erinnerns» bilden, schöpfte er sein Potenzial aus. Bei Erscheinen des ersten Bandes war er 58 Jahre alt.

Roman eines Romans

In seiner zweiten Trilogie verzichtet Haller nun ganz auf fiktionale Elemente. Sein Stil ist schmuck-, aber nicht kunstlos. Man merkt, dass hier einer schreibt, dem der Widerstand des Sprachmaterials wichtig ist. Seine Arbeit gleicht der eines Steinmetzen. Trotzdem ist «Flussabwärts gegen den Strom» keine beschwerliche Lektüre. Da Haller nichts verklärt oder verrätselt, verstehen wir jedes Wort. Und wir haben auch etwas zu lachen, etwa, wenn er freimütig erzählt, wie er am Zürichberg zwei freundliche ältere Damen besucht, die sich für sein Romanmanuskript interessiert haben, und erst im Nachhinein realisiert, dass er bei Ruth Liepman und somit in der bedeutendsten Literaturagentur des deutschen Sprachraums zum Tee geladen war.

Christian Hallers Autobiografie ist ein Künstler- und Entwicklungsroman, der von äusserer und innerer Enge handelt, vom Eigensinn eines sensiblen Menschen, dem seine Ernsthaftigkeit und Unbedingtheit immer wieder in die Quere kommen, der sich aber treu bleibt und in der «Trilogie des Erinnerns» über sich hinauswächst. Wir lesen hier den «Roman eines Romans», wie Thomas Mann sein Buch «Die Entstehung des Doktor Faustus» nannte. 

 

Christian Haller: Flussabwärts gegen den Strom. Luchterhand 2020. 222 Seiten, um Fr. 34.–, E-Book 24.–.

 


Badische Zeitung, 04. Januar 2021

Vom steinigen Weg zum Lebenstraum

Von Roswitha Frey

Schriftsteller Christian Haller aus dem schweizerischen Laufenburg legt den dritten Band seiner außergewöhnlichen Autobiografie vor.
  • pastedGraphic_1.png

  • Der Schriftsteller Christian Haller Foto: Roswitha Frey

 

Vom Auf und Ab eines Schriftstellerlebens, von Krisen, Schicksalsschlägen und dem steinigen Weg zum Lebenstraum handelt das neue Buch "Flussabwärts gegen den Strom" von Christian Haller. Mit diesem Roman schließt der Autor aus dem schweizerischen Laufenburg seine autobiografische Trilogie ab.

Nach "Die verborgenen Ufer" 2015 und "Das unaufhaltsame Fließen" 2017 liegt nun der dritte Band vor, in dem wiederum der Fluss, der Rhein, zur Metapher wird für die Strömungen, Wirbel und Strudel des Lebens. Auslöser der Erinnerungen ist ein Hochwasser, das eine sieben Meter hohe Mauer der Terrasse am Haus direkt am Rhein einstürzen lässt und mit sich reißt. Auf den ersten Seiten schreibt der Ich-Erzähler von der Gerichtsverhandlung, in der um die Übernahme der Schadenssumme gestritten wird.

"Gegen den Strom" kann auch so gedeutet werden, dass der heute 77-jährige Schweizer Schriftsteller unbeirrbar seinen Weg als Literat gegangen ist und sich auch von Rückschlägen und Widerständen nicht entmutigen ließ. Der Ich-Erzähler blendet zurück in die Zeit, als er sich mit Anfang 40 daran machte, einen Gesellschaftsroman über Intrigen und Machtspiele zu verfassen. Damals lebte er in Zürich, in einer bescheidenen Wohnung mit zwei Kammern ohne Warmwasser und Bad. Während der Erzähler ganz und gar im Schreiben des Romans versinkt und wochenlang kaum einen Schritt vor die Haustür macht, übernimmt seine Lebensgefährtin, die Regisseurin Pippa, einen Regieauftrag am Kellertheater Bremgarten. Doch in einer eiskalten Februarnacht erleidet Pippa eine Hirnblutung, fällt ins Koma und ist fortan halbseitig gelähmt.

Das traumatische Geschehnis um den Schlaganfall der Lebenspartnerin, die Wochen in Klinik und Reha, der Umzug ins Haus der Mutter, die unsichere Existenz ohne festes Einkommen – diese Krisen erschüttern das Leben des Künstlerpaares in seinen Grundfesten. Der Ich-Erzähler schildert sehr offen die Folgen von Pippas Erkrankung, die finanziellen Nöte, die Suche nach einer neuen Wohnung, die Wiederaufnahmen der Proben im Theater mit Pippa im Rollstuhl und die erfolglosen Versuche, für das Romanmanuskript einen Verlag zu finden.

Der Leser nimmt unmittelbar Anteil an diesem schwierigen Weg des Autors, der in der Sprache sein literarisches Ich sucht und im literarischen Schreiben die Welt reflektiert. Während er fieberhaft an einem neuen Roman arbeitet, öffnet sich für ihn eine andere Tür: die des Theaters. Am Theater Claque in Baden tritt er eine Stelle als Dramaturg an. Im Urlaub in Italien arbeitet er an seinem Theaterstück "Leben", doch keine Bühne wagt dieses dunkle Stück herauszubringen.

Sehr eindrücklich und umso berührender, weil schlicht und unprätentiös in der Klarheit der Sprache erzählt, lesen sich diese rückblickenden Erinnerungen an Jahre zwischen Verzweiflung, Enttäuschungen, Nichtbeachtung, Absagen und unbeirrtem Festhalten an der Kraft des Schreibens und der literarischen Reflexion.

Der Erzähler verschweigt auch nicht eine bittere Erfahrung bei einer Lesung bei den Solothurner Literaturtagen, als er vom kritischen Zwischenruf eines Zuhörers rüde unterbrochen wird.

Ein neues Kapitel im Leben und literarischen Wirken des Ich-Erzählers beginnt mit dem Umzug nach Laufenburg, in ein Haus direkt am Rhein. "Ich schaute über den Strom, sah die beiden Veranden über der Terrasse, ein Dach wie eine schief gezogene Mütze", schildert er, wie er das Altstadthaus am Wasser zum ersten Mal sah, das dann danach aufwändig umgebaut wurde.

In der Art großer Künstlerromane beschreibt Christian Haller, dieser längst arrivierte, hochgeschätzte, mehrfach preisgekrönte Autor, seine Entwicklung zum anerkannten Schriftsteller. Die tiefgründige Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte, dem eigenen Schreiben führt ihn irgendwann in die "Dunkelkammer meiner Familiengeschichte".

Auf Spurensuche in der Kindheit der Mutter

"Die Schlüssel zur Kammer" ist der Teil überschrieben, in dem sich der Autor entschließt, tief in die Geschichte seiner Vorfahren und damit auch die Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts einzutauchen und auf Spurensuche in der Kindheit seiner Mutter, in Rumänien, zu gehen. Die Reise nach Bukarest holte Schichten der Vergangenheit hervor. "Ich hatte den Schlüssel zu meinem Stoff gefunden", beschreibt er, wie er mit dem Roman "Die verschluckte Musik" endlich den Durchbruch als Schriftsteller schaffte. Seine "Trilogie des Erinnerns" brachte ihm Ruhm, Anerkennung und bedeutende Literaturpreise ein. Wie hart erkämpft dieser späte Erfolg war und wie viel Kraft er gekostet hat, macht der große Literat, der in seiner Laufenburger "Flussklause" gedankentief und sprachlich präzise den fundamentalen Dingen des Lebens auf den Grund geht, in diesem neuen autobiografischen Roman in jeder Zeile spürbar.



Südkurier, 8. 12. 2020

Schreiben gegen den Strom

Christian Haller legt seinen neuen Roman vor
Abschluss einer auto- biographischen Trilogie

Von Markus Vonberg

Mit „Flussabwärts gegen den Strom“ hat der in Laufenburg lebende Schriftsteller Christian Haller nun die Trilogie abgeschlossen, die er 2015 mit „Die verborgenen Ufer“ begann und 2017 mit „Das unaufhaltsame Fließen“ fortsetzte. Alle drei Teile der als Roman bezeichneten Autobiogra- phie spielen auf den Fluss des Lebens an, dessen stetiges Mäandrieren den Ich-Erzähler vom Kind zum Schriftsteller werden lässt. Doch nicht nur ein metaphorischer Fluss ist gemeint. Es geht ganz konkret auch um den Rhein, der an Hallers Laufenburger Altstadthaus vorbeiströmt. Im Juni 2013 brach der Balkon des Hauses ab und stürzte in den Strom.

Dieses Ereignis wird zur Chiffre für Lebenskatastrophen, von denen in „Flussabwärts gegen den Strom“ der inzwischen 77-jährige Haller eine ganze Reihe schildert. Da ist die Hirnblutung, die die Lebenspartnerin des angehenden Schriftstellers vom einen Tag auf den anderen zur Invalidin macht und ihm die Worte raubt. Da ist der Hirntumor, der kurz darauf seinen Mentor und Freund aus dem Leben holt und für immer verstummen lässt. „Einschlagskrater“ nennt Haller die Folgen jener Katastrophen, die das Leben und Denken seines Ich-Erzählers modellieren – und die dieser wiederum zum Thema seiner Literatur macht. Langsam kehren die Worte zurück: „Es gab mir Zuversicht, das Dunkel, das vor mir lag, zu bewälti- gen, es mit Sätzen zu durchdringen und zu erhellen.“

Doch Literatur als erfolgreiche Form individueller Weltbewältigung ist nicht unbedingt auch immer kommerziell erfolgreiche Literatur. Auch diese Erfahrung muss der Schriftsteller als bereits gar nicht mehr so junger Mann machen. Ein ums andere Mal lehnen Verlage seine Manuskripte ab. Als 1991 endlich doch sein erster Roman „Strandgut“ bei Luchterhand erscheint, und er sogar eingeladen wird, auf den Solothurner Literaturtagen zu lesen, endet auch dies in einer Katastrophe. Ein Mitglied der Programmkommission entschuldigt sich am Ende beim Publikum sogar dafür, diesen seltsamen Schriftsteller eingeladen zu haben.

Christian Haller schildert eindrücklich, welchen Mut zur Verletzlichkeit Autoren besitzen müssen, wenn sie ihr Werk und damit auch sich selbst dem Urteil Dritter aussetzen. Vor der Veröffentlichung haben Agenten und Verleger das entscheidende Wort, nach der Veröffentlichung Kritiker und Publikum. Vor jedem Erfolg oder gar möglichem Ruhm steht die viel wahrscheinlichere Zurückweisung. Auch der Schriftsteller in Hallers Buch schafft den Durchbruch erst, als ihm sein Verlag fast schon den Stuhl vor die Tür gestellt hat. Erst „Die verschluckte Musik“ wird 2001 zum ersten literarischen und kommerziellen Erfolg. Der Roman befasst sich mit einer konstituierenden Katastrophe im Leben des Verfassers – mit der Geschichte seiner Familie, mit dem „sich feindlich gesinnten Herkommen meiner Eltern“.

„Flussabwärts gegen den Strom“ ist ein Buch über den modernen Literatur- und Kulturbetrieb. Es ist vor allem ein Buch über einen Schriftsteller am Kipppunkt zwischen Anerkennung und Ablehnung, zwischen Erfolg und Misserfolg. In welche Richtung es geht im Leben, darüber entscheiden meist Hartnäckigkeit, oft Zufälle und manch- mal auch gute Freunde. So gerät der unbekannte und erfolglose Schriftsteller durch Vermittlung einer ehemaligen Arbeitskollegin unter die Fittiche ausgerechnet der legendären Literaturagentin Ruth Liepman. Und auch nach Laufenburg in seine „Flussklause“ findet der finanziell klamme Autor 1994 durch einen hier wohnhaften Freund.

Hallers Ich-Erzähler schildert, wie er am Anfang seines Schreibens bei der Beschäftigung mit dem alten chinesischen „I Ging“ erfuhr: „Ich las aus dem Zeichen den Hinweis, ich solle stets dem Gefälle folgen, wie es das Wasser tut, um so Gefahren und Schwierigkeiten zu vermeiden.“ Gut, dass Christian Haller bei seinem Schreiben nicht jenem Hinweis folgte. Er wäre sonst sicherlich nicht zu jenem Autor geworden, der er heute ist. Doch zum Glück bewegte er sich „Flussabwärts gegen den Strom“.

 


Bieler Tagblatt
, Mittwoch, 16. 9. 2020

Charles Linsmayer

Der Weg, den es nicht gab und den ich dennoch gehen wollte

Literatur  Mit „Flussabwärts gegen den Strom“ beendet Christian Haller die vorbehaltlos ehrlich Geschichte seines Lebens als Schriftsteller - und steuert damit auch Details zu seinem Werk bei.

Die 832-seitige, vom ersten Weltkrieg bis in die 70ziger Jahre spielende „Trilogie des Erinners“ gehört zu den grossen Familien- und Epochenromenen der Schweizer Literatur. Aber als sie 2006 abgeschlossen vorlag, liess ein Naturereigniss ihren Verfasser Christian Haller selbst einen nicht unbedeutenden Mangel darin entdecken. Im ersten Band, „Die verschluckte Musik“, hatte er seine von einer rumänischen Familie abstammende Mutter zum Thema gemacht, der zweite Band, „Das scharze Eisen“, war seinem Grossvater, einem Grossindustriellen gewidmet, der dritte „Die besseren Zeiten“, seinem Vater, der in der Nachkriegszeit nach 1945 nie wirklich seinen Platz fand.

Am Nullpunkt der Existenz

Jenes Naturereignis bestand darin, dass das Hochwasser des Rheins einen Teil von Hallers Haus in Laufenburg mit sich riss und es lange unklar war, ob das Gebäude überhaupt würde gerettet werden könne. Das Ereignis brachte Haller an den Nullpunkt seiner Existenz und liess ihn ganz offenbar auch die „Trilogie des Erinnerns“ mit anderen Augen sehen. Und auf einmal entdeckte er darin einen wesentlichen Mangel: „In meinem Werk fehlte ich selbst. Das Ich, das dies alles erzählt.“ Und um diesen Mangel wieder gutzumachen, begann er nochmals zu erzählen, diesmal jedoch auf eine sehr viel persönlichere, autobiographische Weise: „Mich hatten die Risse im Fundament unseres Hauses zur Frage zurückgeführt, wie das Fundmant meines Lebens tatsächlich beschaffen war und wie ich den Weg gefunden habe, den es nicht gab und den ich dennoch gehen wollte.“

Eine zweite, intime Trilogie

Immer im Blick auf den Fluss, der alles mit sich zu reissen droht, begann Haller seine Lebensgeschichte zu erzählen. Die Geschichte eines erste spät zu Erfolg gelangten Schriftstellers, eine nicht endend wollende Abfolge von Scheitern und Enttäuschungen, die auf radikal ehrliche, sich selbst nicht schonende Weise zeigen wollte, warum ihm der literarische Durchbruch erst 2002, mit 59 Jahren gelingen sollte. Band eins, „Die verborgenen Ufer“ schildert 2005 Hallers Kindheit in Basel und in Suhr, seine Lehrerausbildung, die frühesten literarischen Versuche, die Zeit als Hausbursche einer Züricher Buchhandlung, die erste Liebe und die Begegnung mit der Lebenspartnerin Pippa; während Band zwei „Das unaufhaltsame Fliessen“, 2017, von der Zeit erzählte, als er im Auftrag der Stadt Zürich den Nachlass von Adrien Turel sichtete, Zoologie studierte und an Gottlieb- Dudttweiler Institut in Rüschlikon Karriere machte. Tätigkeiten und Herausforderungen, die im Nachhinein als Umwege zu jenem Eigentlichen erkennbar werden, zu dem er von Anfang an unterwegs war: dem Erfolg als Schriftsteller, „Flussabwärts gegen den Strom“ heisst der nun vorliegenden dritter Band dieser neuen autobiografischen Trilogie und bereits der Titel deutet an, dass der Weg zum Erfolg auch im letzten Drittel des Weges steinig und beschwerlich gewesen ist. Und zwar nicht nur, weil dazu wieder viele berufliche Umwege nötig waren oder weil die Produkte der Schreibleidenschaft die Verlage und die Presse lange Zeit nicht überzeugen vermochten, sondern auch aus privaten, quasi familiären Gründen.

Es war mitten in der mehrjährigen Arbeit an einem Roman mit dem Titel „Der Kongress“, als 1985 Pippa, die Lebenspartnerin, einen Hirnschlag erlitt, der sie halbseitig lähmte und für immer an den Rollstuhl fesselte. Das Ereignis und die Sorge um seine Partnerin machte ihn für lange Zeit schreibunfähig, und es sollte Jahre dauern, bis er die um den Vorfall gelagerte unzugängliche „Kraterlandschaft“ durchdringen und ihn literarisch zu gestalten und damit auch zu bannen vermochte.

In „Strandgut“ ist 1991 der Journalist Sid das Hirnschlagopfer, in der „Brief ans Meer“ trifft es 1995 eine Frau namens Irina, 2008, in Roman „Im Park“, erleidet die Figur Lia genau jene Hirnblutung wie Pippa 1985 und wird gezeigt, wie sie allmählich in eine gewisse Normalität zurückfindet und was das für ihren Partner bedeutet. Jetzt aber, im neuesten Roman, ist Haller soweit, die Geschichte aus persönlichem Erleben zu erzählen und deutlich zu machen, wie sehr das Ereignis und seine Folgen sein Schriftstellerleben als eine entscheidende, existenziellen Herausforderung geprägt und bestimmt haben.

Bei allem Erfolg und alle Anerkennung, die er dafür bekommen konnte, erweisen sich auch die Tätigkeiten, die Haller seit 1985 ausgeübt hat – als Dramaturg und Regisseur am Theater, in leitenden Funktionen bei Organisationen und Vereinen, als Begleiter der Tanzkünsterin Monique Schnyder auf einer Welttournee – erneut als Umwege zu einem Durchbruch als Autor, um den er in mehreren Anläufen vergeblich ringt. Wie er trotz Absagen und Diskreditierungen und obwohl ausser der Agentin Ruth Liepman kaum mehr jemand an ihn glaubt, immer weiter an seinen Texten und Projekten arbeitet und sich in seinem Glauben an den schliesslichen Erfolg nicht entmutigen lässt: das hat etwas Berührendes an sich und dürfte auch anderen Schreibenden, die in ihrem Bemühen, gedruckt zu werden, Misserfolg um Misserfolg erleben, Mut machen. Dass er durch Beobachtungen in Bangladesh und Berlin darauf aufmerksam wird, wie sich in Städten das Historische auf vitale Weise fassbar machen lässt, und das ihn ausgerechnet seine Mutter, durch die Demenz in ihrem Erinnerungsvermögen beeinträchtigt, auf die Idee bringt, das Bukarest vor dem Ersten Weltkrieg ins Visier zu nehmen und da auf sinnlich-anschauliche Weise seine Familiengeschichte beginnen zu lassen: das gehört zu den spannenden Momenten in dieser romanhaften Autobiografie, die nicht nur zu den drei Bänden der grossen Trilogie, sondern auch zu Hallers anderen Werken Informationen und Details beisteuert, die man woanders nicht findet. 

Vor allem die Frauenfiguren

Aber nicht das allein macht das bei aller Schwere der Problematik frisch und munter daher kommenden Buch lesenswert. Es sind vor allem die Frauenfiguren, die am Rand dieses Schriftstellerlebens standen und von denen der Autor immer wieder wesentliche Impulse entgegennehmen durfte: die eigenwillig-kämpferische Schauspielerin Pippa, die auch als halbseitig Gelähmte seine Kritikerin und Gesprächspartnerin blieb; Anina, die Mutter eines Sohnes, die ihm eine Zeitlang ein Familienleben ermöglichte und so plötzlich aus seinem Leben verschwand, wie sie hineingeraten war; und die Tänzerin Monique Schnyder, die ihn auf eine sinnlich elementare Weise mit der grossen Welt versöhnte und ihm von Bukarest aus in einem Telefongespräch nach München den Verleger zuhielt, die den langen erkämpften und ersehnten Durchbruch zum Erfolg endlich möglich machte.

Christian Haller, „Flussabwärts gegen den Strom“, Luchterhand Literaturverlag München, 221 Seiten, Fr. 32.90

 

BLICK 31. 8. 2020 Literatur heute und diverse Publikationen und Zeitungen

«Flussabwärts gegen den Strom»: eine intensive Lebensbeichte

Beat Mazenauer

In Schritten von zwanzig Jahren schreibt Christian Haller in der «Fluss-Trilogie» sein Leben nach. Im dritten Band «Flussabwärts gegen den Strom» findet der Autor zum Schreiben. Das Buch ist ein guter Einstieg in sein Werk.

Der Aargauer Christian Haller hat jahrzehntelang beharrlich Krisen gemeistert - bis er nun mit seinem neuem Roman "Flussabwärts gegen den Strom" zu sich als Schriftsteller gefunden hat.

Krisen sind auch Chancen. Was abgedroschen klingt, bewahrheitet sich im Fall von Christian Haller gleich doppelt. Als vor Jahren, nach starken Regenfällen, ein Teil seines Hauses am Rhein grollend zusammenbrach, fiel auch er in ein tiefes Loch.

Haller hat das Signal zum Anlass genommen, dem eigenen Leben nachzuspüren und seinen Weg zu überprüfen. Entstanden sind daraus zwei Bücher, in denen er auf seine Jugend und die Arbeit am Gottlieb Duttweiler Institut zurückblickt. In «Flussabwärts gegen den Strom», seinem neuen dritten Band wendet er sich seinem Schreiben zu.

Es geschieht etwas Unvorhergesehenes: «Zwischen zwei und drei Uhr früh erlitt Pippa eine Hirnblutung.» Der Satz markiert eine Zäsur. Pippa, die Lebens- und Arbeitspartnerin, ist nach dieser Nacht halbseitig gelähmt. Damit zerschlagen sich die Pläne des Autors. Das Leben würde fortan anders verlaufen - nur wie?

Der Weg zur Erfüllung des Lebenstraumes als Autor ist beschwerlich. Haller erzählt in seinem neuen autobiografischen Werk, wie er und Pippa mit Geduld und Sorgfalt sich im neuen Leben einrichten und wie er mehr und mehr in ihr Arbeitsfeld, das Theater, hineinrutscht.

Demgegenüber geht es mit dem Romanschreiben nicht recht voran. Er unternimmt mehrere Versuche, seine Erfahrungen am Gottlieb Duttweiler Institut literarisch zu verarbeiten. Doch selbst die renommierte Agentin Ruth Liepmann bringt diese Manuskripte vorerst nicht unter.

Haller schreibt von etlichen Niederlagen, bis er eines Tages den «Schlüssel zu seinem Stoff», zur Geschichte seiner Mutter, findet. Daraus entsteht 2001 der eindrückliche Roman «Die verschluckte Musik», mit dem er den Durchbruch schafft. Zwei weitere Romane schliessen bis 2006 die «Trilogie des Erinnerns» über die Geschichte seiner Familie ab. Damit endet nun die «Fluss-Trilogie», deren dritter Teil «Flussabwärts gegen den Strom» ist.

In diesem Werk macht Haller die zeitweise verzweifelte Lage mit eindrücklicher Schlichtheit spürbar. Pippas Unglück berührt, und einige seiner Erfahrungen als «junger» Autor klingen im Nachhinein geradezu haarsträubend. So wurde, als er 1991 bei den Solothurner Literaturtagen zu Gast war, seine Einladung von einem Mitglied der Programmkommission öffentlich als Fehler bezeichnet.

Dennoch geht Christian Haller auf Umwegen, doch unbeirrt, weiter, bis er den Zugang in die «Dunkelkammer meiner Familiengeschichte» findet, so aus der literarischen Krise herausfindet und sich seinen leidenschaftlich gehegten Traum erfüllt.

Spätestens sei dem Moment, als in Bukarest «die Wirklichkeit in alte, familiäre Fiktionen» hereinbricht, bilden Leben, Erinnerung und Fiktion eine Einheit in seinem Werk. Mit der «Erfahrung des zweiten Blicks», wie er es nennt, macht Haller das Vergangene «zu einem Gegenstand einer privaten Dichtung», mal fiktional, mal autobiographisch.

Die eigene Lebens- und Familiengeschichte bildet das Fundament seines Werks. Mit der literarischen Reflexion über das eigene Schreiben gewinnt die Lebensbeichte hier im dritten Band der Trilogie spürbar an Intensität und Dichte. Es ist eindrücklich, zu lesen, wie der Autor mit Krisen umgeht, welches Beharrungsvermögen er trotz vieler Niederlagen an den Tag legt, bis er, der 1943 geboren wurde, in fortgeschrittenem Alter am Ziel ist. Und: Christian Haller kommt ganz zu sich selbst. Das schützt nicht vor weiteren Krisen, doch sie treffen einen gefestigten Schriftsteller, der seinen Traum lebt.*

*Dieser Text von Beat Mazenauer, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.

(SDA)


Buchbeilage PS, Oktober 2020

Das fehlende Ich

Von Theo Byland

2015 und 2017 sind die beiden ersten Bände der autobiografischen Romantrilogie des 1943 geborenen Aargauer Schriftstellers Christian Haller erschienen; jetzt liegt der abschliessende Band vor: „Flussabwärts gegen den Strom“ – bewegend.


Das diese chronologisch erzählte Trilogie auslösende Moment ist der 19. Juni 2013: „Vier Uhr nachts, ein dumpfes Grollen. (...) Das Hochwasser hat einen Teil unseres Hauses weggerissen.“ Am „Nullpunkt der Existenz“ angekommen, wie Haller im ersten Band „Die verborgenen Ufer“ notiert, beginnt der Autor über die Bedeutung dieses Ereignisses in seinem 70. Lebensjahr nachzudenken, einem Leben, das sich durch eine gegenläufige Bewegung auszeichnet – der Titel des vorliegenden Bandes nennt sie bildhaft: Sich einlassen auf das und mitgehen mit dem, was unbedingt gelebt werden will, das Schreiben, einerseits, und andererseits das stete Schwimmen gegen den Strom, der alltägliche Kampf gegen die damit verbundenen Schwierigkeiten (Absagen von Verlagen, finanzielle Sorgen, Fragen der beruflichen Orientierung, Beziehungsnöte).
Wer sich aber gleichzeitig vorwärts und rückwärts bewegt, riskiert, dass im Körper etwas reisst; wer in einem Fluss gegen den Strom schwimmt, bleibt an Ort. Tatsächlich ist das erzählende Ich immer wieder Zerreissproben ausgesetzt und kommt nicht wirklich vorwärts im Leben, auch im dritten Band lange Zeit nicht. Es probiert weiterhin verschiedene Berufe aus, versucht sich – nach einer Regieassistenz – als Regisseur, später als Dramaturg, nimmt Einsitz in kulturelle Gremien, geht mit eigenen Texten auf Tournee mit einer Tänzerin und gibt gleichzeitig nicht auf, was lange Zeit nicht gelingen will: das Schreiben. Erst mit 59 Jahren kommt der Durchbruch, als Haller sich mit dem Roman „Die verschluckte Musik“ einen Platz in der Literatur erschreibt. Diesen Roman wird er zur – nota bene hervorragenden – „Trilogie des Erinnerns“ erweitern, die auf den Lebensgeschichten seiner Herkunftsfamilien beruht. Spätestens von da an wird er von der Öffentlichkeit wahrgenommen und anerkannt.
Als zehn Jahre später das Hochwasser kommt und ein Teil des Fundaments seines „Daseinsgebäudes wegbricht“, geht dem Autor auf der Suche nach der Bedeutung dieses Geschehnisses nebst der Frage, „wie der Untergrund meines Lebens denn tatsächlich beschaffen war“, etwas Wesentliches auf: „In meinem Werk fehlte ich selbst. Ich hatte über Mama, Grossvater, meinen Vater, über Pippa [seine Partnerin, T. B.] und ihre Krankheit geschrieben, doch nicht über mich selbst. In den vielfältigen Lebensbezügen, die ich bearbeitet hatte, fehlte ... eine Figur: Das Ich, das dies alles erzählt. Es tritt nie wirklich in Erscheinung.“ Also steigt er die Treppe hoch in seine „Flussklause“ und beginnt die Arbeit an seinem autobiografischen Roman.

Schriftsteller*innen sind auf der Suche nach dem Wort, paradoxerweise nach „dem Wort, das mich fände“, wie Erika Burkart in einem Gedicht schreibt. Man darf als Leser*in dankbar sein, dass Christian Haller dieses Suchen nie aufgegeben hat und uns jetzt auch Einblicke ermöglicht in sein Leben und den Prozess des Schreibens, wo „das entstehen will, was noch nicht in die Sprache gedrungen und vorgeformt ist.“ Die Worte haben ihn gefunden.
Christian Haller, Flussabwärts gegen den Strom. Luchterhand 2020



Haller, Christian

Flussabwärts gegen den Strom

Luchterhand Verlag München 2020​​ , 220 S. (Bx)

Von Heinrich Boxler

Nun ist der Bogen geschlagen, der sich über das Buch "Die verborgenen Ufer" von 1915, über "Das unaufhaltbare Fliessen" von 1917 und das Buch "Flussabwärts gegen den Strom" von 2020 spannt. Es handelt sich um die Autobiografie eines Autors, der mit entwaffnender Offenheit über seine Hochs und Tiefs bis in die jüngsten Jahre hinein berichtet. Diese Offenheit ist nur möglich, weil der Autor unterdessen festen Grund gefunden hat, von dem aus er über sein Leben und Schreiben berichtet.

Als Leitmotiv dienen dem Autor durch alle drei Bände hindurch die Ereignisse rund um sein Haus am Rhein bei Laufenburg. Der erste Band mit dem Titel "Die verborgenen Ufer" beginnt höchst dramatisch mit dem Einsturz eines Teils des Wohnhauses über dem Rhein. Nicht weniger dramatisch sind die persönlichen Katastrophen, die über den Autor in dieser Zeit hereinbrechen. Dazu gehören die Trennung von seiner langjährigen Partnerin und die teilweise negative Kritik an seinem Roman "Der seltsame Fremde". Der erste Band der autobiografischen Aufzeichnungen umfasst die Zeit von der Geburt des Autors bis zu seiner Heirat mit der Schauspielerin Pippa.

Im zweiten Band "Das unaufhaltsame Fliessen" soll die rheinseitige Terrasse wieder aufgebaut werden. Dafür ist es nötig, festen Fels als tragendes Fundament zu finden. Auch in der beschriebenen Lebensepoche sucht der Autor nach festem Grund für sein Leben und Schreiben. Er setzt sich mit Adrien Turels anarchischem Denken, mit dessen unbeirrbarem Verfolgen des einmal gewählten Weges und mit dessen Nonchalance auseinander, was die Meinung des Publikums betrifft. Im Zoologiestudium lernt der Erzähler die Bedeutung wissenschaftlicher Hypothesen kennen und wird sich bewusst, dass wissenschaftliche Theorien Formen des Erzählens sind. Am Gottlieb-Duttweiler-Institut organisiert er Kongresse und trifft dabei mit vielen Koryphäen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Philosophie zusammen. Diese Arbeit verschafft ihm einen sicheren Boden im Bereich der Wissenschaft. Noch aber hat er nicht zum Schreiben gefunden.

Dies nun ist der Inhalt des dritten Bandes der Autobiografie. Unterdessen ist die Terrasse auf sicherem Fundament wiederhergestellt. Noch aber dauern die gerichtlichen Verhandlungen um die Bezahlung des Schadens an. Beim Bau des Kraftwerks Laufenburg zwischen 1909 und 1914 wurden nämlich die Stromschnellen gesprengt, was zu einer Schwächung des Felsufers geführt haben muss. Im Lauf des Prozesses wird dem Autor bewusst, wie das tatsächliche Geschehen in Wörter und Zahlen verwandelt wird. Ähnliches erlebt er beim Schreiben von Romanen. Es entstehen neue Wirklichkeiten, die vom Erlebten abgelöst sind. Und diese Textwirklichkeiten liegen ihm näher als die fremde, unverständliche Welt.

Die Gerichtsverhandlungen wecken im Autor aber auch Erinnerungen an den Kampf um die Rente für seine kranke Frau. Nach einer dramatischen Hirnblutung wird klar, dass sie sich davon nie mehr restlos erholen wird. Das Ereignis wirft den Erzähler aus der Bahn. Er kann nicht mehr lesen, und beim Schreiben fehlen ihm die Wörter. Pippa muss ihren Beruf als Regisseurin aufgeben und ist an den Rollstuhl gebunden. Es ist nicht die einzige Schwierigkeit, welche die Krankheit nach sich zieht. Treppen werden zu unüberwindbaren Hindernissen für die Kranke. Ein Hausbesitzer will keine Behinderte unter seinen Mietern haben. Ein Co-Regisseur hackt so auf Pippa herum, dass sie erneut wie gelähmt ist.

Der Autor übernimmt gewisse Verpflichtungen von Pippa und wächst auf diese Weise in die Theaterarbeit hinein. Aber er sieht darin nicht seine Zukunft. Mit unglaublicher Hartnäckigkeit arbeitet er an Texten, aber er findet trotz der Unterstützung von Lion Feuchtwangers ehemaliger Privatsekretärin, der bedeutenden Literaturagentin Ruth Liepmann, keinen Verleger. Unerwarteterweise ist der Kiepenheuer Theaterverlag bereit, das Stück "Leben" zu publizieren. Aber niemand wagt es, das Stück aufzuführen.

Nach intensiver Zusammenarbeit mit Pippa am Text "Die verlorene Wirklichkeit" ist der Luchterhand-Verlag dank der Literaturvermittlerin bereit, das Buch unter dem Titel "Strandgut" zu publizieren. Schon bei der Lesung an den Solothurner Literaturtagen gibt es einen Zwischenruf, und bei der Kritik fällt das Buch durch. Unterdessen sind auch die finanziellen Reserven des Autors erschöpft. Fast aus Protest gegenüber seiner Familie, für die der Gedanke, auf dem Sozialamt zu landen, die schrecklichste aller Vorstellungen war, begibt sich der Autor aufs Arbeitsamt. Erfolglos bemüht er sich um Arbeit an einem Theater.

Im Zusammensein mit seiner alternden Mutter wird sich der Autor immer bewusster, was in seiner Familie abgelaufen ist. Die Mutter stammte aus verarmtem Grossbürgertum, während es der Vater im Industriellen-Milieu zu Wohlstand gebracht hatte. Das musste der Grund sein, warum die Mutter stets die Abwesende war. Dem Autor wird bewusst, dass er sich mit seiner Familiengeschichte befassen muss. Damit beginnt die Suche nach dem Leben der Mutter, die nach einem Beckenbruch nicht mehr allein leben kann und in der Pflegeabteilung des Spitals Laufenburg unterkommt. Ihretwegen fährt der Erzähler nach Bukarest, wo sie in grossbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen ist. Sie selbst glaubt Stimmen der Vergangenheit zu hören. Das Buch, das über die Mutter entsteht, trägt deshalb den Titel "Die verschluckte Musik". Es wird zum Erfolg und zum Anfang einer "Trilogie des Erinnerns", in der sich der Autor in je eigenen Büchern mit seinem autoritären Grossvater und seinem unglücklichen Vater befassen wird. Der Durchbruch ist gelungen. Endlich wird der Verfasser als Schriftsteller wahrgenommen und eifrig gelesen.

Nun wagt sich der Autor auch an die Ereignisse jener tragischen Nacht heran, die das Zusammenleben mit Pippa erschütterte. Darüber hinaus wird ihm bewusst, dass in der ganzen Familiengeschichte noch eine Figur fehlt, nämlich er selbst. Diese Erkenntnis führt schliesslich zur schonungslosen Darstellung seines eigenen Werdegangs.

Ein Element darf in der Besprechung des neusten und letzten Buches der Autobiografie nicht unerwähnt bleiben. Mit ungeheurer Akribie beschreibt der Autor, wie sehr er um das Schreiben, um jeden Satz, jedes Wort ringt und wie schwierig es ist, den Schlüssel zu finden, der den Stoff lebendig werden lässt. Seine Recherchen umfassen weit mehr als ein Kennenlernen von Alltag und technischen Voraussetzungen einer bestimmten Zeit. Er zeigt auf, was Hineinfühlen in eine Epoche bedeutet und wie die Weltgeschichte die Biografien der einzelnen Romanfiguren prägt. Das Buch müsste zur Pflichtlektüre jedes angehenden Schriftstellers, jeder angehenden Schriftstellerin erklärt werden. Es dürfte aber auch jener Legion von Schreibenden die Augen öffnen, welche glauben, mit dem Aufschreiben der Familiengeschichte sei ein Buch entstanden, das Eingang in die Weltliteratur finde.

Das Buch beeindruckt nicht nur durch die schonungslose Offenlegung, wie ein Mensch mit Erfolgen, vor allem aber auch mit Schicksalsschlägen umgeht. Es gewährt faszinierende Einblicke in die literarische Arbeit eines Schriftstellers und ringt dem Lesenden höchste Achtung ab, wie da einer trotz grösster Widerstände nicht aufgibt, bis er den Zugang zu einem Stoff findet und ein Text vorliegt, der sprachlich befriedigt und die Gefühle der Lesenden mitschwingen lässt.