Werke & Presse

DER SELTSAME FREMDE

Porträt in Cicero

Klappentext

Als der Fotograf Clemens Lang eine unerwartete Einladung in eine ferne Metropole erhält, fühlt er sich geehrt. Er beschliesst zu reisen, um seine Arbeiten einem internationalem Publikum vorzustellen. Doch bereits am Flughafen trifft er einen Fremden, der behauptet, sein Begleiter zu sein. Dem Fotografen fallen zwar ein paar Seltsamkeiten an dem älteren Herrn auf, doch schon bald führt dieser ihm eine Welt vor, die undurchschaubaren Gesetzmäßigkeiten gehorcht. Während am Kongress internationale Experten über die Wahrnehmungsgeschichte, über den Bruch zwischen analoger und digitaler Fotografie diskutieren, arbeitet Clemens Lang an einer Fotofolge. Er dringt mehr und mehr in das Labyrinth der Metropole ein, gerät dabei aber auch zusehends in die eigenen Irrgänge. Und sein zwielichtig diabolischer Begleiter konfrontiert ihn nicht nur mit seiner Vergangenheit, sondern auch mit überraschenden Befunden der Zeitgeschichte.

Bildgenau und mit höchster sprachlicher Sensibilität erzählt Christian Haller die Geschichte eines Mannes, für den eine Reise in die Welt zu einer zutiefst verstörenden Begegnung mit sich selbst und seiner Zeitgeschichte wird. „Der seltsame Fremde“ ist ein Roman über die Kunst und das Leben, über die Bilder, die wir uns von der Welt machen, und über die Manipulation unserer Wahrnehmung von Wirklichkeit, über das Sehen und das Wegschauen und über die blinden Flecken in unserem Auge.



DER SPIEGEL 28/2013

LITERATUR

Mit Dante ins Inferno

Schon als Kind auf dem Spielplatz empfand Clemens Lang sich als Außenseiter; das Gefühl, beobachtend danebenzustehen, ist ihm eingeprägt. Lang ist Fotograf, Ende vierzig, mit einer Astrophysikerin verheiratet und in seiner Schweizer Heimat verwurzelt; kein flotter Reporter, sondern ein von Kennern geschätzter Meister der Kunst, das Unwiederbringliche eines Augenblicks im Bild zu bannen. Der Roman "Der seltsame Fremde" von Christian Haller, dessen Ich-Erzähler Lang ist, beginnt damit, dass der Fotograf die Einladung erhält, sein Werk auf einem Kunstwissenschaftlerkongress in einer asiatischen Metropole zu präsentieren. Er berichtet, wie diese Reise für ihn (mit bewusstem Bezug auf Dante) zu einem Gang ins Inferno wird: einerseits dieser Kongress in kolonialistischer Kulisse mit seinem Themenspektrum von der Erfindung der Zentralperspektive bis zum Realitätsverlust in der digitalen Fotografie, andererseits diese brodelnde Vitalität der Stadt rundum. Irgendwann hockt Lang neben einer Bettlerin auf der Straße und fühlt sich "in all dem Dreck, Lärm, Gestank glücklich" wie nie zuvor, endlich vom Leben überwältigt.

Der Schweizer Schriftsteller Christian Haller, 70, hierzulande unbegreiflich wenig beachtet (obwohl seine Romane seit mehr als 20 Jahren in einem deutschen Verlag erscheinen), versteht es, den Gang der Erzählung voranzutreiben und zugleich schwungvoll mit Ideen und Deutungen zu jonglieren. Besonderen Glanz gewinnt die Geschichte des Fotografen durch einen geisterhaften Mitreisenden, der immer wieder unvermutet auftaucht, mal als Nothelfer, mal als diabolischer Menschenmanipulator. Das Motiv (wie der Titel des Buchs) stammt aus Mark Twains Roman "The Mysterious Stranger" , und Haller macht daraus die schillernde Figur eines philosophischen Taschenspielers und Ideen-Feuerwerkers: Er mag ein Engel sein, doch einer aus Satans Sippe.

Christian Haller 
Der seltsame Fremde 
Luchterhand Literaturverlag, München; 384 Seiten; 22,99 Euro.



Literarische Welt, 6. April 2013

Faust ist heute Fotograf

Ohne geistige Gepäckserleichterung: der Schweizer Schrifsteller Christian Haller hat einen klassischen Ideen- und Reiseroman geschrieben

von Tilman Krause

Der faustische Mensch – das ist ein Topos, den die Deutschen lange Zeit gern für sich in Anspruch genommen haben. Den Dingen auf den Grund gehen; herausbekommen, "was die Welt im Innersten zusammenhält"; subjektive Wahrnehmung abgleichen mit den Erklärungsmodellen, die die Wissenschaften zur Verfügung stellen: solche Anstrengungen galten einst hierzulande viel.

Je unübersichtlicher die Dinge in Gesellschaft und Politik wurden, je krisenhafter man das eigene Leben im Wechselspiel von Rückversicherung im Alten und Anpassung an das Neue empfand, desto üppiger schossen die umfassendsten Erklärungsmodelle ins Kraut. Vor allem in der Zwischenkriegszeit hatten sie Konjunktur. Und damals griffen sie auch auf die Literaten über.

Im Grunde sind alle großen Romane dieser Epoche, stammen sie nun von Kafka oder Broch, Thomas Mann und Robert Musil, intellektuell hochgerüstete Versuche der Daseinsvergewisserung. Sie führen die Debatten ihrer Zeit weiter, artikulieren ihre Verunsicherungen, einige schwingen sich auch zu utopischen Gegenentwürfen auf – und oft übernehmen sie sich dabei. Dass Musil seinen "Mann ohne Eigenschaften" nicht vollendet hat, kommt nicht von ungefähr.

Solche literarischen Parforceritte sind gründlich aus der Mode gekommen. Unsere Zeit zieht das pointierte Statement oder die ironische Abbreviatur der umständlichen Erörterung bei weitem vor. Geistige Gepäckerleichterung heißt die Parole, und oft gewinnt die Literatur dadurch ja auch an Straffheit, an geschmeidiger Eleganz.

Der Schweizer Schriftsteller Christian Haller, der kürzlich 70 Jahre alt geworden ist, hat in seiner letzten Veröffentlichung, einer Sammlung von kultursoziologischen Feuilletons unter dem vielsagenden Titel "Die Stecknadeln des Herrn Nabokov" stilistisch wie gedanklich auf der Höhe unserer heutigen Diskussionen mit Bravour gezeigt, wie das gehen kann: das alte Bohren nach dem Wie und Warum in eine moderne, federnde, kommensurable kleine Form zu überführen. Aber der Drang, bei der Tiefbohrung nach den tektonischen Verschiebungen unserer Wirklichkeit auch in die Breite zu gehen, hat ihn in seinem neuen Buch übermannt und einen formal anderen Weg einschlagen lassen.

Mit einem langem Atem und großem "Behagen", wie Gottfried Keller das genannt hätte, breitet er dieses Mal eine satte Geschichte vor uns aus, eine Geschichte, die weite Kreise zieht und die viel mit sich führt an Motivik, Fragestellung, Perspektiven. Ja, nichts Geringeres als einen klassischen Ideen- und Gelehrsamkeitsroman hat er geschrieben, einen Spätling seiner Art, organisiert als Reiseerzählung, als Weltfahrt eines, wie die Tradition es will, zögerlichen, nachdenklichen, von Selbstzweifeln nicht freien Charakters, kurzum eines modernen Faust.

Und dieser Faust von heute ist ein Fotograf. Er wohnt – unschwer ist Hallers eigenes Lebensumfeld zu erkennen – auf der Schweizer Seite eines kleinen Orts am Rhein. Der ursprüngliche Wasserfall, der diesem Platz einst sein wild romantisches Gepräge gab, ist längst in Energie umgewandelt – die Ambivalenz dieses Befundes, der viel über die äußere und innere Dynamik der Schweiz erzählt, hat Christian Haller im zweiten Teil seiner poetischen Chronik über die Schweiz des 19. und 20. Jahrhunderts, in dem Roman "Das schwarze Eisen", meisterhaft entfaltet.

Auch jetzt besitzt der Ort als Ausgangspunkt des Romans "Der seltsame Fremde" symbolische Kraft: Der Fotograf Clemens Lang führt hier ein auf den ersten Blick beschauliches Dasein, das ganz der Betrachtung der Natur und ihrer wechselnden Erscheinungsformen gewidmet zu sein scheint. Aber er weiß ja um den "Stau", weiß um das Gemachte seines Stillstands, und so kann es denn nicht überraschen, dass es schon bald vorbei ist mit der vita contemplativa.

Wie ein reißendes Wasser zieht es ihn, in Form einer Einladung zu einem Fotografen-Kongress, schon vom zweiten Kapitel an in die vita activa. Alsbald überschlagen sich die Ereignisse, und alle Aufgeregtheiten und Absonderlichkeiten unserer Epoche brechen mit Macht über den faustischen Fotografen herein. Von Beginn an erlebt Clemens das heillose Ausgesetztsein des heutigen homo viator: die unwirtliche Welt der Flughäfen, die Aufhebung bewusstseinsmäßiger Konstanten bei Langstreckenflug und Verlorensein in der Transition, schließlich die Zumutungen von Verkehr, Städtebau, allgemeiner Verelendung der Massen bei gleichzeitiger Herausbildung einer hauchdünnen kapitalistischen Oberschicht in einem jener urbanen Molochs der Dritten Welt, an den die Reise führt.

Die Megapolis, in der sich nun die Geschichte abspielt, wird nicht genau lokalisiert: Eine koloniale Vergangenheit gibt es da, auch eine Erinnerung an Kulturrevolution und sozialistische Herrschaft. Vor allem aber ist die Gegenwart von einem auf Hochtouren galoppierenden Veränderungswillen gekennzeichnet, der vollkommen preisgibt, was die Schweiz sich in ihrer Zeit der Industrialisierung (und bis heute) zu bewahren wusste: Balance.

Alle Fragen, die Clemens beschäftigen, stellen sich auf dieser quasi extraterrestrischen Position seiner selbst verstärkt: Die Kollegen mit ihren Bildern von Kriegsschauplätzen oder Porträts sogenannter Promis kratzen indirekt an seinem Selbstbewusstsein als Künstler.

Die städtische Kulisse, die ihn umgibt, verlangt nach wirtschaftlicher und historischer Analyse, ja mehr noch: Sie führt zu grundsätzlichen Überlegungen, wie heute Wahrnehmung möglich ist, da sich vor das Analoge immer mehr das Digitale schiebt. Eine Rückschau auf die Kosmogonien anderer Zeiten kann auch nicht weiterhelfen, erbringt sie doch nur die Erkenntnis, dass Konstruktion immer im Spiel war und das Wirkliche, Wahrhaftige nicht zu haben ist.

Während Clemens in der unschönen neuen Welt von einem Abenteuer ins andere taumelt, gibt nur sein mephistophelischer Reisebegleiter die Gewähr, dass es so etwas wie Vertrauen ins Leben samt heiterem Darüberstehen geben könne: Schon auf dem Flughafen in Zürich hatte er sich ihm beigesellt, der "Causeur", wie Clemens ihn bei sich nennt, ein alteuropäischer Dandy und Wiedergänger des weiland als "Kulturphilosoph" Epoche machenden Egon Friedell, der Clemens sein "Buch der Halbwahrheiten" an die Hand gibt.

Doch erst Kollaps und erzwungener Krankenhausaufenthalt, erst Liebesenttäuschung und soziale Stigmatisierung in der Kongressteilnehmer-Gruppe setzen Clemens in Stand anzuerkennen, dass sein bohrendes Verlangen nach Erklärungen dafür, "wie es eigentlich (gewesen) ist", auch ganz gut bei "Halbwahrheiten" aufgehoben sei. Dass ein in Maßen zynischer, doch dabei immer amüsanter Gefährte wie der Kaffeehausliterat Landers alias Friedländer alias Friedell angenehmer sein kann als jeder ach so seriöse Welterklärer. Der quälende Drang, in die Tiefe zu gehen und die bekömmliche Art, sich an Oberflächen zu halten: Sie stehen am Ende dieses vielverschlungenen Epos' gleichberechtigt nebeneinander. Wie auch Clemens Freundin Sarah die neuesten Errungenschaften der Physik mit Dante zu vereinen weiß. Man kann auch sagen, um noch einmal Goethe zu bemühen: "Am farbigen Abglanz haben wir das Leben."

Und das reicht ja auch für uns Erdenkinder, die wir aus krummem Holz gemacht sind. So liest sich "Der seltsame Fremde", der am Ende wieder in die vertraute Schweiz zurückführt, wie eine Parabel auf die Überwindung titanischer spekulativer Gelüste nach der Weltformel durch die gute, alte Empirie. Eine Lektion in intellektueller Bescheidenheit also, die uns Haller hier verabreicht? Vielleicht, aber eine Lektion, die die Versuchung, alles restlos aufzuklären, gleichfalls außerordentlich ernst nimmt, mitunter zu ernst.

Originalausgabe



NZZ am Sonntag 31. März 2013

Der Aargauer Erzähler Christian Haller legt zu seinem siebzigsten Geburtstag mit «Der seltsame Fremde» ein so komplexes wie faszinierendes neues Buch vor

Mit Mephisto in der Dritten Welt

Christian Haller: Der seltsame Fremde. Luchterhand, München 2013. 381 Seiten, Fr. 32.90, E-Book 23.90. 
Von Manfred Papst

Dass Christian Haller ein Romancier von hohem Rang ist, wissen wir spätestens seit seiner «Trilogie des Erinnerns» (2001-2006). Sie umfasst drei autobiografisch inspirierte Romane, in denen der Autor sprachrnächtig und präzis, musikalisch vielfältig und perspektivisch aufgefächert vom Leben einer Schweizer Familie über ein halbes Jahrhundert hinweg erzählt. Haller umreisst hier eine ganze Epoche der Schweizer Geschichte. Sein Hauptwerk steht in der Tradition Meinrad Inglins und ist in seiner Bedeutung bis heute noch nicht annähernd erfasst.

Die «Trilogie des Erinnerns» ist indes bei weitem nicht das einzige bemerkenswerte Buch dieses sperrigen Autors, der in seinem Äusseren so sehr an Samuel Beckett erinnert. Vieles wäre hier zu erwähnen, von der herben, dichten Lyrik bis zum 2008 erschienenen Roman «Im Park», einem Schmerzensbuch von existenzieller Wucht. Daneben hat Haller aber auch häufig die kleine Form gepflegt und unter dem Titel «Die Stecknadeln des Herrn Nabokov» wundersame philosophische Miniaturen publiziert, die meist von Alltagserfahrungen ausgehen und das ansprechen, was der Philosoph Günther Anders die «Antiquiertheit des Menschen» genannt hat.

Immer wieder hat Christian Haller uns mit seinen Büchern überrascht. Mit seinem Roman «Der seltsame Fremde» tut er es aufs Neue. Noch einmal wagt er etwas im Wortsinn Unerhörtes. Die Geschichte beginnt zwar unspektakulär. Ein Fotograf sitzt in seiner Wohnung. Durchs Fenster sieht er den kanalisierten Fluss. Wir müssen keine Hellseher sein, um in der Szenerie Hallers Heimat Laufenburg und den Rhein zu erkennen. 1908 wurden hier Felsen gesprengt, um den Flusslauf zu beruhigen. Hallers Protagonist beobachtet die bewegten Wassermassen und hält ihre Schönheit in statischen Bildern fest. In diesem Widerspruch kann man durchaus so etwas wie den Bauplan des Romans erkennen.

Auf Höllenfahrt 
Clemens Lang, so heisst der Fotograf, wird schon auf der ersten Seite des Buchs freudig erschreckt. Eine Einladung zu einem Kongress lockt ihn aus seinem Schneckenhaus. Ängstlich und neugierig bricht er auf. Seine Reise führt ihn In eine ferne, namenlose Metropole. Lang soll im Rahmen eines Kongresses seine Arbeit vorstellen. Er wähnt sich allein unterwegs. Doch schon am Flughafen lernt er einen seltsamen Gefährten kennen, der ihn fortan begleitet.

Dieser ist ein rätselhafter Geselle. Ein anhänglicher Plauderer, der sich aber auch immer wieder entzieht. Offensichtlich hat er Eigenschaften und Fähigkeiten, über die Normalsterbliche nicht verfügen. Er kann Gedanken lesen. Sein Gesicht erscheint nicht im Spiegel. Und er kann rauchen, ohne dass seine Umwelt davon Kenntnis nimmt. Das ist für einen passionierten Freund des Tabaks ein enormer Vorteil, nicht zuletzt auf Langstreckenflügen.

Mit dem «Causeur», der den Fotografen Clemens Lang begleitet, hat Christian Haller eine faszinierende, schillernde Figur geschaffen. Sie ist unter anderem eine versteckte Hommage an den grossen Wiener Kulturhistoriker, Schauspieler und Feuilletonisten Egon Friedell, den Haller verehrt und dessen Werk er sehr genau kennt. Aber es spielen auch andere Elemente hinein. Der Causeur ist ein komplexer, kaum zu fassender Charakter und nicht zufällig die Titelfigur des Romans.

Clemens Lang reist in eine unbekannte Welt. Sie verwirrt und ängstigt ihn. Uns Lesern geht es nicht anders. Dass wir nicht wissen, wo wir sind, erhöht die Spannung. Befinden wir uns in einer indischen oder südamerikanischen Metropole? Der Autor hat die Antwort bewusst ausgespart. Er will uns keine lokal zu verortende Story liefern, sondern nimmt uns mit auf eine Höllenfahrt. Wir begleiten den skrupulösen Fotografen mit äusserster Anspannung. Und wir reagieren so irritiert und doch auch erleichtert wie er, wenn der «seltsame Fremde» wieder auftaucht. Wir beginnen seine diabolischen Causerien zu lieben. Wir liefern ihm uns zunehmend bereitwillig aus.

Gebannt begleiten wir Clemens Lang und seinen geisterhaften Begleiter durch die fremde Metropole. Wir begegnen unbekannten Menschen, Tieren, Farben, Gerüchen. Schritt für Schritt sind wir verunsichert und überwältigt. Doch unser Held trifft nicht nur auf eine irritierende Gegenwart. Er wird auch mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Die Reise durchs Labyrinth der unbekannten Stadt wird zu einer Reise ins eigene Ich. Das ist ein wesentliches Element des Romans. In der Fremde spiegelt sich das Eigenste. Das Buch reflektiert aber anband des geschilderten Kongresses, an dem Lang bezeichnenderweise seinen eigenen Auftritt verpasst, auch Fragen der modernen Wissenschaft, der Erkenntnistheorie, der Philosophie. «Der seltsame Fremde» ist ein komplexes Buch mit vielen Erzählebenen und subtilen Brechungen. Es analysiert unter anderem auf hinreissende Weise die Geschichte der Bilder und ihrer Wahrnehmung von der Erfindung der Zentralperspektive bis zur digitalen Fotografie.

Einige Kritiker haben dem Werk deshalb vorgeworfen, es sei theorielastig, bleiern, verkopft. Nichts könnte falscher sein. Gewiss: «Der seltsame Fremde» ist ein anspruchsvolles Buch. Es verwebt die Abenteuer von Clemens Lang und seinem geheimnisvollen Gefährten mit einer elaborierten Theorie des Bildes. Aber eben: Es verwebt sie. Es arbeitet sie in den Erzählfluss ein. Hätten wir denn jemals einem Thomas Mann vorgeworfen, dass in seinem «Doktor Faustus» etwas viel von Beethovens Spätwerk, der Zwölftonmusik und anderen schwer verständlichen Dingen die Rede sei? Angesichts dessen, was die literarische Saison an so gestyltem wie anspruchslosem Lesefutter hervorbringt, kann man nur ausrufen: Gottseidank wagt wieder einmal einer etwas! Zum Glück appelliert einer an unsere Neugier und Intelligenz – und nicht nur an unsere banale Fresslust.

Keine simple Geschichte 
Nicht alles in Christian Hallers neuem Roman ist gleich gelungen, Bisweilen ächzt das Werk – wie andere seines Kalibers – unter der Last seines Anspruchs. Aber das liegt an den verarbeiteten Stoffmassen und ihren vielfachen Spiegelungen. Dieser Autor ist kein Nebelwerfer, kein absichtsvoller Enigmatiker. Er schreibt so einfach wie möglich und so kompliziert wie nötig. Was er uns hier mitzuteilen hat, ist nun einmal keine simple Story. «Der seltsame Fremde» ist ein Welt- und Lebensbuch für kluge und geduldige Leser. Wer sich in dieses Labyrinth wagt, hat durchaus etwas auszustehen. Er wird sich bisweilen einsam und verloren fühlen. Er wird Angst haben. Er wird hungern und frieren. Dafür aber wird er reich an Erfahrungen und Ideen, auch reich an beglückenden Sprachbildern aus ihm auftauchen. Und er wir ein anderer sein als zuvor. Mehr kann man von einem Roman kaum verlangen. Man wünscht diesem Werk deshalb viele Leser – und den kommenden Auflagen weniger Druckfehler .

Originalausgabe (pdf)



Neue Zürcher Zeitung, Feuilleton, 13.3.2013
DER MANN MIT ZWEI KAMERAS
Christian Hallers Roman „Der seltsame Fremde“

Samuel Moser
Der Übergang vom analogen zum digitalen Zeitalter vollzieht sich als Bruch, auch in der Fotografie. Das Bild als einmaliges Dokument wird zum jederzeit reversiblen Konstrukt. Die Grenzen zwischen Realität und Virtualität verfliessen. Das Phänomen ist kulturgeschichtlich nicht neu, wächst aber mit den heutigen technischen Möglichkeiten ins Unermessliche. So entfaltet es seine Virulenz auch in Christian Hallers neuem Roman. «Der seltsame Fremde» stellt einen Abschied dar von seinem bisherigen Erzählen von «Vergangenheiten, Bergwerkstollen, Familiengeschichten», wie wir es aus der grossen «Trilogie des Erinnerns» kennen. In gewisser Weise bleibt er ihm aber auch treu, indem er in das «Bergwerk» unseres Wahrnehmungs- und Erinnerungsapparates selber vordringt.

Komplexe Konstruktion

Haller bedient sich rein literarischer Mittel. Anders als etwa bei W. G. Sebald finden wir in seinem Buch keine Fotografien. «Der seltsame Fremde» bleibt ein Roman, auch wenn er die Zeit der «grossen Erzählungen» für beendet erklärt. In den «kleinen Erzählungen», so Hallers Anspruch, zeigt sich wie in einem zerbrochenen Spiegel aber doch immer noch die allgemeine Geschichte. Ein ambitiöses Projekt. Äussere und innere «Schauplätze», physikalische und ästhetische Theorien, intertextuelle Bezüge quer durch die Weltliteratur ergeben eine schier uferlose Konstruktion. Immerhin bleibt sie anschaulich und flüssig zu lesen – ein eindrücklicher Beweis für Hallers erzählerisches Können.

Protagonist ist der Fotograf Clemens Lang, stets ausgerüstet mit Digitalkamera und der kleinen Leica, die ihn noch mit der Welt des Vaters verbindet. Von ihm hatte er seinerzeit in Florenz auch das «Sehen», das perspektivische zumal, gelernt. Lang lebt mit der Astrophysikerin und Dante-Leserin Sarah in der Schweiz. Es ist November, Nebelschwaden verhüllen den Fluss, der vor dem Fenster des Hauses zugleich fliesst und sich staut. Er ist ein zentrales Sujet Langs und ein Sinnbild für den Roman Hallers. Manchmal reisst der Nebel auf, gibt den Blick frei auf die Ufer, die nicht mehr natürlich sind.

Da erreicht Lang eine Einladung. Er soll auf einem Kongress am Institute for Contemporary and Colonial Studies seine Bilder präsentieren und dort ein fotografisches Portfolio über «Ort und die Menschen» machen. Lang weiss: Das ist sein «Augenblick». Doch gleich gerät er in einen Taumel. Die Flugreise in die namenlose Stadt in einem namenlosen, ausgebrannten Nirgendwo, in dem Armut und Globalisierung aufeinanderprallen, wird zur Unterweltsfahrt. Seinen «neutralen» Platz hinter der Kamera kann Lang nicht mehr halten. Der Sturz durch das «diesseitige Inferno» zerrt ihn selber hervor ins Licht der Selbsterkenntnis. Schon vor dem Abflug gesellt sich in der Wartehalle ein seltsamer Fremder zu Lang, ein Herr wie aus einem andern Jahrhundert. Er raucht Zigarre – in der Wartehalle eines Flughafens? Könnte es sein, dass es ihn gar nicht gibt? Riecht er nicht ein bisschen nach Schwefel? Eine wunderbare Figur ist Haller hier gelungen, die wie nichts anderes den Kern seines Romans verkörpert. Wie der Herr «erschienen» ist, ist er auch wieder verschwunden. So wird es durch den ganzen Roman hindurch bleiben. Er stellt sich vor als Langs Begleiter. «Causeur» – nennt ihn diesen liebevoll: einen Mann des Wortes, einen geistreichen Geist, einen Mephisto, einen Magier. Einer, der über alles im Bild, nie aber auf dem Bild ist, das Lang von ihm schiessen möchte. Er hat, wie wir es von Unterweltsführern kennen, die Gabe, die Zukunft vorauszusehen, zu bestimmen gar. Sind nicht sogar Langs Gedanken genau die, die er in dessen «Buch der Halbwahrheiten» zu lesen bekommt? Landers ist übrigens sein Name.

Damit wir noch weiter in das Spiegelkabinett hineingeraten: Landers erinnert Lang an einen Mann namens Friedländer, der ihn wiederum an einen Schriftsteller und Kulturphilosophen namens Friedell erinnert und in ihm das Bild seines ehemaligen Mentors evoziert, des Journalisten Grünfeld, der in einem Kaffeehaus seine Séancen abhielt, am liebsten über Mark Twains rätselhafte letzte Erzählung «Der geheimnisvolle Fremde», in der ein Sohn des Leibhaftigen ein paar österreichischen Buben die Welt hin- und wegzaubert. Gleich bei seinem ersten Auftauchen in der Runde hatte Grünfeld Lang damals als den «geheimnisvollen Fremden» begrüsst. Auch Grünfeld hat ein Buch geschrieben, aber nicht bloss mit Papier und Tinte, sondern aus Fleisch und Blut: Lang ist sein Protagonist. Auch das ist gekonnt, wie Haller seinen Text und sich als Autor da wegzaubert, in den Abgrund stürzt. Auch das riecht nach Schwefel! Hätte seine «commedia» einen Eingang, müsste darüber wohl stehen: Erkenne dich selbst, denn der seltsame Fremde, dem du begegnest, bist du!

Der Kongress wird für Lang zum Debakel. Mit interessiertem Desinteresse folgt er den überkandidelten Referaten zur «Wahmehmungsgeschichte anhand der sich verändernden Bildauffassung». Eines geht ihm allerdings doch unter die Haut: die Eröffnungsrede des stellvertretenden Ministers, der den «Stellvertreter» zum Paradigma des Verschwindens macht – nicht nur der Wahrheit an sich, sondern auch seiner eigenen Existenz. Meist aber irrt Lang zwischen Kongress-Palast, Guesthouse und andern Ingredienzen postkolonialen und postsozialistischen Lebensstils hin und her, entfernt sich immer mehr in die umliegenden Slums. Aber so recht will ihm sein Portfolio-Auftrag nicht gelingen. Bald verschanzt er sich wieder hinter der Kamera, bald ist er der Wirklichkeit wehrlos ausgesetzt: einer alten Frau, die ihm eine verdorbene – verbotene – Frucht schenkt, einem Liebespaar in seinem Versteck, einem Säugling mitten auf der Autobahn. Und dann ist zu seiner Verwirrung da auch noch eine «Laura», die ihn an Anna erinnert, wohl den verpassten «Augenblick» seines Lebens schlechthin. Lang bricht zusammen, erwacht im Hospital. Seinen Auftritt am Kongress verpasst er. Immerhin kann er die Bilder für sein Portfolio bei einem Kollegen vor Oft entwickeln, der ihm zu einem zweiten Mentor wird: auf die «fundamentale Menschlichkeit» des Fotografen komme es an, egal, was und wie er auch fotografiere.

Am Ende die Ironie

Damit ist der etwas gar versöhnliche Schluss des Romans eingeläutet. Haller lässt seinen Protagonisten zusammenbrechen, aber nicht zerbrechen. «Was immer auch geschehen war und noch geschehen wird, es hat seine Richtigkeit»,sagt der ins Paradies oder zumindest ins Purgatorium der heimischen Küche zurückgekehrte Lang zu Sarah beim Betrachten der Bilder aus dem «Inferno». Sein letzter Blick aber geht dann doch noch einmal zurück über seine Schulter: «Mich erfüllte ein prickelndes Gefühl, als wäre der Causeur in der Nähe.» Damit triumphiert am Ende nicht Luzifer, sondern die luzide Ironie des Erzählers. Sie setzt seinen epochalen Anspruch ins richtige Licht.



CICERO, März 13

ALLES FLIESST 
von Alexander Kissler

Auch in seinem neuen Roman ist Christian Haller ein Virtuose der Erinnerung. Eine Spurensuche am Rhein

Hier also hat sie gesessen, ein Jahr vor ihrem Tod. Auf dieser Bank, zu deren Füßen der Rhein träge dahinfließt und den schweizerischen vom deutschen Teil des Städtchens Laufenburg trennt, saß die Mutter und lauschte den Worten des Sohnes. Hier, sagt Christian Haller und blickt über den Rhein ins Ungefahre, hier las er ihr aus seinem Roman "Die verschluckte Musik" vor. Die Mutter lauschte und nickte, vielleicht weinte sie auch, und plötzlich sagte sie leise: "Jetzt sitzen wir an der Donau."

Die Mutter war, aus Deutschland stammend, bis 1926 im großbürgerlichen Bukarest aufgewachsen. Dem Paradies ihrer Kindheit hielt sie die Treue in der Schweiz, wo sie den größten und eben auch letzten Teil ihres Lebens verbrachte, überschattet von Demenz. Bukarest war ein Handlungsort der "Verschluckten Musik", mit dem Christian Hallers Zeitpanorama "Trilogie des Erinnerns" 2002 begann. Es sollten "Das schwarze Eisen" und "Die besseren Zeiten" und damit die Jahre bis zur Nachkriegszeit folgen. Hätte Christian Haller nur diese drei Bücher verfasst – er hätte sich allein damit in die erste Riege der deutschsprachigen Literatur geschrieben. Heute beobachtet kaum jemand genauer, formuliert präziser, denkt tiefer.

Die in der Trilogie titelgebende Erinnerung ist das Lebensthema des studierten Biologen und langjährigen Theaterdramaturgen, der mit 18 Jahren beschloss, Schriftsteller zu werden. Gerne zitiert er Dante – "Erinnerung, die du schriebst, was ich geschaut". Aus welchen Schichten ist sie gebaut, gewinnen wir je Halt? Erinnern, sagt Christian Haller, ist ein poetischer Vorgang. Immer neu aus je unterschiedlichen Bildern konstruiere der Mensch seine Erinnerung; nie sei sie zweimal gleich.

Wir spazieren auf dem Rheinuferweg zurück in den deutschen Teil Laufenburgs. Napoleon teilte die Stadt, davor lag sie 500 Jahre lang im Habsburgerreich. Das Eis birst unter unseren Füßen, Christian Haller spricht von Gips: "Gips hat keinen Widerstand", es sei das schlimmste Material überhaupt. Gipskunst könne es nicht geben, Kunst entstehe nur am Widerstand, im Austausch. Die beiden Widerstände, denen Christi an Haller seine Kunst abringt, sind die Sprache und die Gegenwart.

Für ihn ist Dichtung, was sie auch für Thomas Mann war, heute indes kaum mehr ist: ein Sprachkunstwerk. In der 2006 abgeschlossenen Trilogie wurden der Untergang der alteuropäischen Zivilisation, das Aufkommen der Barbarei und der Sturz nach vorne in die Vernünftigkeit zu einem sprachlichen Solitär von weltliterarischer Geltung verdichtet. Wer irre zu werden droht am Deutsch und am Flachsinn dieser Tage, der lese die Trilogie und gesunde. Von der dementen Mutter heißt es, "ihre Stimme war dünnes Glas". Der Schweizer Großvater, ein Unternehmer und ehemaliger Fremdenlegionär, trug im Gesicht "das Vergessen, das eine vom Wein aufgequollene Linie unter die Lider legte".

Die Gegenwart ist das andere Widerlager. Christan Haller sieht Technik und Ökonomie fast unumschränkt herrschen, "und das quält mich". Beide werfen ihr verdummendes Netz über die Welt. Einmal brach Christian Haller, dieser freundliche Herr, der am 28. Februar seinen 70. Geburtstag feiert, eine Lesung deshalb ab. Die Abiturienten vor ihm verstanden seine Worte nicht. Da fragte er, ob jemand die drei Urväter des Alten Testaments kenne. In das Schweigen hinein erscholl auf Schwyzerdütsch der Ruf, "ich wusste gar nicht, dass es drei Urväter gibt". Da verließ der Autor die Aula. Er geniert sich dafür und wusste doch keine andere Wahl.

Am eigenen Leib lernte Christian Haller die Fallstricke der Erinnerung kennen, als er durch seinen persönlichen Nullpunkt ging. In den achtziger Jahren erlitt seine Lebensgefährtin einen Hirnschlag, wurde über Nacht zum Pflegefall. "Ich bin da wirklich an den Rand geraten. Ich war paralysiert. Ich konnte ein Jahr lang nicht schreiben, hatte keinen Verdienst mehr, stand auf der Straße."

Über 20 Jahre später erst fand er eine Sprache für den Schicksalsschlag. Seine Selbstbefragung als Roman erschien 2008, "Im Park". Die Haupdigur, ein Paläontologe, sucht "nach dem Ursprungsort seiner Art". Neues Leben wächst schließlich auf dem Morast des Vergangenen.

Die neue Schicht in Christian Hallers erzählerischem Kosmos ist "mein umfangreichster Roman bisher". Er heißt wie die letzte Erzählung Mark Twains, auf die er vielfach Bezug nimmt, "Der seltsame Fremde". Zum 70. Geburtstag wird er nun erscheinen. Christian Haller schöpfte aus seinen vielen Fernreisen als Dramaturg, um in der Figur des Fotografen Clemens Lang, den es anlässlich einer Konferenz in eine asiatische Megalopolis verschlägt, die Fragen dieser Zeit zu stellen: Erleben wir gerade eine "Umstülpung aller Werte"? Ist Abfall alles, was von unserer industriellen Zivilisation bleiben wird? Und kann man ein Leben verfehlen, wenn man an dessen entscheidenden Momenten falsch abbiegt?

Außerdem ist "Der seltsame Fremde" eine amüsante Spuk- und Teufelsgeschichte, eine Hommage an Egon Friedell und ein flirrender Beitrag zum Streitfall namens Wirklichkeit. Dass diese ebenso wie die Vergangenheit ein schwankendes Boot ist, zeigt der Blick auf den gezähmten Rhein, der eine Stadt teilt und verbindet, ordnet und trennt. Der Dichter aber erzählt, was gewesen sein wird.